Angesichts von hoher Inflation und Zinssätzen nahe Null bleiben Aktien – auch wenn sie nicht besonders günstig sind – die zu bevorzugende Anlageform, meint Guy Wagner, Managing Director von BLI - Banque de Luxembourg Investments.

Herr Wagner, bei unserem letzten Gespräch im Sommer waren die Finanzmärkte noch in recht guter Verfassung. Seitdem hat sich die Stimmung eingetrübt. War das vorherzusehen?

 „Im Rückblick lässt sich das natürlich leicht sagen – das ist ja immer so. Die Märkte sind nicht nur in diesem Jahr stark gestiegen, sondern schon seit Beginn der Pandemie Ende März 2020. Es ist normal, dass die Märkte nach einiger Zeit etwas an Fahrt verlieren, zumal wenn eine Reihe von Wirtschaftsfaktoren negativ wirken oder auch Ereignisse wie die Zahlungsschwierigkeiten des chinesischen Konzerns Evergrande dazukommen. Für die Märkte war das ein Anlass zu Korrekturen. 

Wie von Vielen befürchtet, steigt die Inflation weiter; gleichzeitig bleibt das Konjunkturwachstum schwach. Ist das nicht das schlimmstmögliche Szenario? 

„Dieses Szenario einer sogenannten Stagflation – konjunkturelle Stagnation gepaart mit hoher Inflation – ist in der Tat eines der schlimmsten Dinge, die passieren können. Ganz soweit ist es zwar noch nicht, aber Sie haben Recht: Der jüngste Trend geht in diese Richtung. Das ist Besorgnis erregend, denn der Inflationsanstieg ist auf gestörte Lieferketten zurückzuführen, auf Arbeitskräftemangel und Rohstoffknappheit, das heißt auf Engpässe auf der Angebotsseite, nicht bei der Nachfrage. 
Das Wachstum ist also weiterhin vorhanden, wenn auch die Indikatoren hinter den Erwartungen zurückbleiben. Man wird in der nächsten Zeit im Auge behalten müssen, ob das Wachstum von Dauer ist.

Wie können oder sollten sich die Zentralbanken in der aktuellen Lage verhalten, zumal zu dem bereits schwierigen Kontext noch der Anstieg der Energiepreise hinzukommt? 

„Bislang lautet das Credo der Zentralbanken, der Inflationsanstieg sei nur vorübergehender Natur und eine Straffung der Geldpolitik und Zinserhöhungen seien frühestens Ende 2022 zu erwarten. 
Das Problem ist nur, dass die wirtschaftliche Realität die Notenbanken vor eine Situation stellen könnte, in der sie sich – anderes als in den vergangenen Jahren – zwischen zwei Dingen entscheiden müssen: Wollen sie die Inflation bekämpfen, mit all den negativen Folgen, die das auf den sozialen Zusammenhalt hat? Oder wollen sie weiter versuchen, das Wachstum und die Finanzmärkte zu unterstützen? 

In der neuen Ausgabe Ihrer Publikation „Perspectives“ betonen Sie die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems. Wie konnte es soweit kommen? 

„Diese Krisenanfälligkeit ist auch die Folge einer Politik der vergangenen 15 – oder vielleicht noch mehr – Jahre, in denen man meinte, Zinssenkungen als Allheilmittel für Wirtschafts- und Finanzprobleme jeglicher Art einsetzen zu können. So hat das System seine Selbstreinigungskräfte verloren. Ein System, das nie bereinigt wird, wird allerdings zwangsläufig anfällig für Krisen. Und genau da stehen wir heute. 
Die starken Eingriffe der Zentralbanken haben seit der Finanzkrise von 2008 deutlich zugenommen. Heute gibt es Risiken, die man noch nicht einmal genau benennen kann, die aber dann ans Tageslicht treten könnten, wenn die Zinsen eines Tages wieder steigen. 

Dennoch ist die Wertentwicklung an den Aktienmärkten über das Jahr gesehen, sehr gut – es wurden sogar historische Höchststände erreicht. Heißt das, für diejenigen, die bislang nicht in Aktien investiert haben, ist es jetzt zu spät, um noch attraktive und rentable Anlagechancen zu finden?

„Richtig ist, dass Aktien heute nicht mehr günstig sind, dass ihr Bewertungsniveau außerordentlich hoch ist. Das ist die negative Seite. Andererseits muss man sagen: Für einen Anleger, der seine Kaufkraft mittel- und langfristig erhalten will, sind Aktien vor allem angesichts der steigenden Inflation noch die Anlageform der Wahl. 
Nimmt man hochwertige geldmarktnahe oder festverzinsliche Anlagen, erhält man zum Beispiel auf zehnjährige US-Staatsanleihen eine Rendite von 1,6 % – bei einer Inflation von rund 5 %. Real, das heißt inflationsbereinigt, liegen die Renditen damit weit im negativen Bereich. Und in der Eurozone sieht es noch schlechter aus. Daraus ergibt sich, dass Aktien heute die erste Wahl für die Anlage sind.
Natürlich muss man angesichts der Risiken der Märkte äußerst selektiv vorgehen und sich der Volatilität einer jeden Aktienanlage bewusst sein. In den vergangenen zehn Jahren hätte ein Anleger, der in geldmarktnahe Anlagen investiert hätte, insgesamt Geld verloren. Hätte er in Aktien investiert, hätte er seine Kaufkraft – trotz schwieriger Marktphasen – mehr oder weniger erhalten. 

Vorhin haben Sie die Zahlungsschwierigkeiten des Immobilienentwicklers Evergrande erwähnt. Müssen wir ein Katastrophenszenario wie bei Lehman Brothers erwarten? 

„Ich glaube nicht. Im Gegenteil: Auch wenn wir noch nicht wissen, wie sich die chinesische Regierung gegenüber Evergrande verhalten wird, werden sie womöglich versuchen, eine Situation wie bei der Lehman-Pleite zu vermeiden. Wenn ein überschuldetes Unternehmen Konkurs macht, verlieren Gläubiger und Aktionäre ihr Geld. Das ist die Logik des Kapitalismus: Wenn Sie eine höhere Rendite suchen, gehen Sie mehr Risiko ein. Wenn es gut läuft, ist das schön für Sie. Wenn nicht, verlieren Sie Ihr Geld. Wen man hingegen schützen muss, das sind die Kunden und Lieferanten. Nach der Lehman-Pleite hat man jedoch zuerst die Gläubiger und Aktionäre geschützt. 

Zum Schluss noch ein Wort zum Goldpreis, der seit Jahresbeginn um über 7 % nachgegeben hat. Hat Gold seine Rolle als sicherer Anlagehafen verloren? 

„Soweit würde ich nicht gehen, auch wenn die Entwicklung überraschen mag. Man sagt ja immer, dass Gold eine Zufluchtsanlage gegen Inflation ist. Auch die gesunkenen negativen Zinsen hätten sich eigentlich positiv auf den Goldpreis auswirken müssen. Ich würde den Rückgang des Goldpreises eher als eine natürliche Konsolidierung sehen, nach dem starken Preisanstieg von 25 % im Vorjahr und von fast 20 % im Jahr 2019. Außerdem interessieren sich die Anleger aktuell offenbar eher für Erdöl. Kurz gesagt: Ja, die aktuelle Goldpreisentwicklung ist enttäuschend, bedeutet aber nicht, dass Gold seinen Status als Zufluchtsanlage verloren hätte.

 


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